Die Stromverteilnetze in Europa arbeiten weit unter ihrem vollen Potenzial. Das Laden von Elektrofahrzeugen kann deshalb weitestgehend ohne zusätzlichen Netzausbau erfolgen, hat das Regulatory Assistance Project (RAP) in einer Kurzanalyse festgestellt. „Intelligente Preisgestaltung und smarte Technologien sind die Schlüssel dafür“, schreiben Mike Hogan und Andreas Jahn vom RAP.

„Meine Mittel will ich so verwalten, dass wenig weit soll reichen“, schrieb schon William Shakespeare. Airbnb und Uber haben nach diesem Prinzip gehandelt und ungenutzte Kapazitäten vorhandener Gebäude und Autos erschlossen. Dabei haben sie Unternehmen aufgebaut, die in weniger als zehn Jahren einen Wert von zusammen über 100 Milliarden US-Dollar erreicht haben. Warum sollten wir nicht dasselbe Prinzip für die Stromnetze anwenden?

Die bestehenden Stromnetze haben ungenutzte Kapazitäten—Freiräume, die insbesondere für das Laden von Elektrofahrzeugen gut geeignet sind. Eine Kombination aus angemessener Preisgestaltung und Bereitstellung intelligenter Technologien könnte dazu beitragen, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen und demzufolge die Kosten für alle Nutzer des Stromsystems zu minimieren.

Die Akteure im Verkehrs- und Energiebereich haben ebenso wie die politischen Entscheidungsträger erkannt, dass die Elektrifizierung des Straßenverkehrs einen wichtigen Beitrag zur Dekarbonisierung leisten kann. Die schnell sinkenden Kosten für Batterie- und Elektrofahrzeuge (BEV oder einfach EV) zusammen mit der Verbesserung ihrer Leistung steigern den Wert dieser vielversprechenden Option.

Die Akzeptanz für Elektrofahrzeuge könnte jedoch sinken, wenn der Infrastrukturbedarf anhand von Worst-Case-Szenarien für die Stromnachfrage und den Netzbetrieb beurteilt wird. Die EV-Gleichung ist kompliziert: Elektrofahrzeuge und verwandte Technologien wie Ladegeräte werden ständig verbessert. Neue Entwicklungen verändern den Straßenverkehr, einschließlich eines Trends zum Teilen, der auch für Fahrzeuge gilt. Welche Investitionen zur Elektrifizierung des Verkehrs erforderlich sind, hängen von diesen und anderen Entwicklungen ab.

Elektromobile sind flexibel

Die gute Nachricht ist, dass Elektrofahrzeuge den Strom speichern und daher bei der Beladung zeitlich flexibel sind. Eine Aufladung der Elektrofahrzeuge in Zeiten, in denen Kapazitäten frei sind, beschränkt die Netz- und Erzeugungsinvestitionen auf ein Minimum. Alle Verbraucher, nicht nur diejenigen mit Elektrofahrzeugen, würden davon profitieren. Denn die Kosten der bestehenden Infrastruktur würden auf eine höhere Stromlast und damit auf mehr Schultern verteilt.

In unserem Bericht Treasure Hiding in Plain Sight haben wir einige Verteilnetze analysiert und festgestellt, dass bestehende Netze im Allgemeinen weit unter ihrem vollen Potenzial betrieben werden. Hierfür haben wir die Netzwerkauslastungsrate betrachtet, das heißt den tatsächlichen Durchsatz als Prozentsatz des maximal möglichen Durchsatzes in einem bestimmten Zeitraum: in Deutschland beim innogy-Westnetz und dem Edis-Netz (nördlich von Berlin) sowie dem französischen Verteilernetz. Wir haben hierfür verschiedene Zeiträume betrachtet, beispielsweise den Tag der Nachfragespitze oder auch einen typischen Sommertag. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Verteilnetzsysteme zu maximal 50 bis 70 Prozent ausgelastet sind. Dabei überschätzen wir wahrscheinlich die hier ermittelten Auslastungen, da dies eine konservative Annahme ist und die Spitzennachfrage kaum der maximalen Kapazität des Systems entspricht. (Zu beachten ist, dass dies eine verteilnetzbezogene Abschätzung darstellt und nicht ausschließt, dass lokale Verstärkungen erforderlich sind.)

Unsere Analyse zeigt, dass ausreichend Netzwerkkapazität verfügbar ist, um neue Lasten der Elektromobilität aufzunehmen. Selbst an Spitzenlasttagen kann noch eine wesentliche Last außerhalb der Spitzenzeiten hinzugefügt werden, wenn auch nur für eine begrenzte Dauer.

Wie können wir das nutzen?

Es ist eine Politik erforderlich, die die Nutzung dieser bestehenden Netzkapazität für die Elektrifizierung des Verkehrs fördert, entweder direkt durch die EV-Eigentümer oder durch innovative neue Geschäftsmodelle.

Eine zeitabhängige, volumetrische (oder dynamische) Preisgestaltung für Energie und Netz bildet hierfür die Ausgangslage. Solche Tarife ermöglichen es den Verbrauchern, Maßnahmen zu ergreifen, die ihre Stromrechnung reduzieren und dem System als Ganzes dienen. Während die dynamische Preisgestaltung für Energie in den letzten Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnt, hat die dynamische Preisgestaltung für Netze bisher wenig Beachtung gefunden. Im Gegensatz dazu stehen die jüngsten Trends zu kapazitätsbasierten Netzentgelten oder Grundpreisen in einigen europäischen Staaten.

Kurz- bis mittelfristig sind zeitabhängige Bepreisungen und Spitzenlastpreise praktikable Optionen, um die Netze besser zu nutzen. Für solche Tarife existiert schon eine Fülle an Erfahrungen. Trotzdem bleibt es schwierig, das Potenzial dieser Maßnahmen und ihre Wirksamkeit zu bewerten, da die Verteilnetzbetreiber und die Regulierungsbehörden die Verteilnetzauslastung kaum überwachen beziehungsweise dokumentieren und veröffentlichen. Ein positives Beispiel findet sich in Schweden, wo die Regulierungsbehörden ein regelmäßiges Monitoring in Verbindung mit einer ergebnisorientierten Regulierung eingeführt haben. Eine solche ergebnisorientierte Regulierung ist von grundlegender Bedeutung, um die Rechenschaftspflicht zu gewährleisten, geeignete Anreize zu bieten und erforderliche Anpassungen der rechtlichen Rahmenbedingungen zu ermitteln.

Längerfristig sind über Digitalisierung und Echtzeitdatenaustausch weitere Verbesserungen bei der Nutzung der Ressourcen zu erreichen. Pilotprojekte für dynamische Preisgestaltung haben gezeigt, dass die Vorteile solcher Bepreisungen steigen, wenn sie von intelligenter Technologie begleitet werden, und umgekehrt. Verbraucher behalten neue Verhaltensweisen länger bei, wenn automatisierte Kontrollen verfügbar sind, entweder durch einzelne Anwender oder durch Aggregatoren. Die politischen Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden sollten entsprechend Investitionen in intelligente Technologien fördern, die sowohl zur Erreichung öffentlicher, politischer Ziele beitragen als auch alle Hindernisse für die aktive Teilnahme von Aggregatoren beseitigen.

Also, worauf warten wir?

Es ist recht einfach, die vorhandenen Kapazitäten besser zu nutzen, um die Elektromobilität mit den geringsten Kosten und den minimalsten Risiken für die Verbraucher zu integrieren. Dies erfordert jedoch, dass politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden jetzt handeln. Die Netzentgelte sollten die EV-Besitzer belohnen, wenn damit ein Ladeverhalten erzielt wird, das der Gesamtsystemeffizienz zugutekommt. Die Einführung des dynamischen Ladens kann innovative Geschäftsmodelle vorantreiben und gleichzeitig eine faire Kostendeckung im Stromnetz sicherstellen. Die politische Unterstützung für den Einsatz geeigneter Technologien wird gewährleisten, dass intelligente Tarife maximale und nachhaltige Vorteile bringen. Die politischen Entscheidungsträger haben die Chance, die nächsten großen Erfolgsgeschichten der „Sharing Economy“ voranzubringen.

Eine Version dieses Artikels erschien in Tagesspiegel BACKGROUND.

Eine englische Version dieses Artikels erschien in Energy Post.